In kühnem Streich wurde per Bookworms-Volksentscheid beschlossen, "Zwischen Welten" von Julie Zeh und Simon Urban zu lesen, das Buch des Monats beim NDR, weil "nah dran an den gesellschaftlichen Debatten. Der Roman liest sich streckenweise wie eine Rückschau auf die vergangenen ein bis zwei Jahre. Es geht um weiße Künstlerinnen, die mit Dreadlocks auftreten und dafür massive Kritik einstecken müssen. Eine Biologin, die einen Vortrag über 'Zweigeschlechtlichkeit' halten will und durch Protestierende daran gehindert wird. Einen Offenen Brief gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, den Juli Zeh übrigens unterzeichnet hat."
"Was bleibt? Dies: Wer über Shitstorms, Cancel Culture, Wokeness, und wie die Schlagworte alle lauten, tatsächlich etwas erfahren möchte, was er nicht schon vorher wusste, oder auch wer nur wahrhaftig etwas über die realen Menschen da draußen lesen möchte, ist hier – entgegen dem Bild von Juli Zeh, das in der Öffentlichkeit zirkuliert – nicht gut bedient", muffelt die TAZ.
Ein unauflösbarer Widerspruch? Ach woher denn! Helge Schneider hat doch bei Maischberger vorgeführt, wie man solche Dialektik eleganter und souveräner auflöst als Hegel und Marx: "Ich mache die Musik, die ich fühle. Wenn jemand anderes sagt: 'Das ist kulturelle Aneignung' - das interessiert mich 'nen Scheißdreck."
"Liebes Arschloch" von Virginie Despentes legt das Ohrwatschl auch an den Puls der Zeit in ihrer "Versuchsanordnung[...], um die Emanzipationskämpfe und Empörungskonjunkturen unserer Zeit durchspielen zu können", wie die SZ zusammenfasst. Und auch hier gilt: "Im Gespräch bleiben, aber den Konflikt dabei (mit halbwegs zivilisierten Mitteln) bis an den Punkt ausfechten, wo es richtig wehtut." Kritik übt die Rezensentin Juliane Liebert am Stil, wenn die Figur "ständig reden muss wie Pippi Langstrumpf aus der Banlieue, die in den Topf mit bourgeoisem Zaubertrank gefallen ist", schließt aber: "Als Erster-Schritte-Ratgeber 'How To Become a Mensch in the 21. Century' wäre 'Liebes Arschloch' durchaus brauchbar. Was kann man Besseres von Kunst sagen?" Geht doch SZ, man muss nicht immer schwurbeln, nur weil man im Feuilleton schreibt.
Da juckt es doch, einen Blick in die "Feindpresse" zu werfen. Und siehe da: "Vor allem aber ist 'Liebes Arschloch' eine Anleitung zur Genesung von Sucht. Virginie Despentes hat ihren nihilistischen Drive, der die 'Vernon Subutex'-Romane antrieb, nicht verloren. Er steht nun aber im Dienst einer Versöhnungsidee. Wer wird versöhnt? Der Süchtige mit der Idee, dass er nicht sterben muss, wenn er sich helfen lässt von Gleichgesinnten. Virginie Despentes hat ein Hoffnungsbuch geschrieben. Wer hätte es gedacht", haucht ergriffen die NZZ.
Soviel Lob von dieser Seite ist verdächtig! Der FAZ ist es auch aufgefallen und sie fragt sich: "Wie Virginie Despentes selbst zu diesem neuen Konsens um ihr Werk steht, ist bisher unklar. Sollte man es als Hinweis verstehen, dass sie vor zwei Jahren im Centre Pompidou einen Vortrag hielt, in dem sie sagte: 'Wir brauchen eine Revolution der Sanftheit'?"
Kleines Update aus der TAZ vom 4.3.:"Glückliches Frankreich, wie gespalten auch immer: Ihr habt Despentes, wir haben Juli Zeh."
Februar 2023 |
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