Dass sie, die 82-jährige französische Autorin Annie Erbaux, es lange verdient hat, sind sich alle einig, "for the courage and clinical acuity with which she uncovers the roots, estrangements and collective restraints of personal memory", wie das Nobelpreis-Komitee in seiner Begründung schreibt. Und es sind sogar nicht wenige ihrer Bücher auf Deutsch lieferbar - ganz was Neues.
"Zu den wichtigsten Themen ihrer Literatur gehören die Erfahrungen von Mädchen und Frauen in der französischen Gesellschaft seit Ende des Zweiten Weltkriegs", fasst die Zeit zusammen.
Ernaux' Sprache sei "unsentimental, sezierend, genau", stellt die taz fest und der Nobelpreis sei auch eine Auszeichnung "einer besonderen literarischen Sprache". Ernaux habe Frauenthemen "ins Zentrum der Literatur" gerückt.
Auf deutschlandfunkkultur wird betont, welche Bedeutung Ernaux für viele Autor*innen hat, in Frankreich vor allem auf Eribon und Louis. Der Beitrag geht auch genauer auf das "Ich" in den Werken der Nobelpreisträgerin ein, das nicht autobiographisch verstanden werden sollte, sondern als "Sozialroman", wie in dem Beitrag "Die letzte Kunst ist die Soziologie" (von: Tobias Krone) des br Ende 2021 getitelt wurde.
Wer Eribaux sehen und hören will, kann das derzeit in einem 5-minütigen Beitrag zum Nobelpreis von kulturzeit in 3sat. Und auf der Suhrkamp-Seite spricht sie 15 Minuten (auf Französisch) über ihr Buch "Die Jahre".
.Der ukrainische Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022. In der Begründung des Stiftungsrates wird nicht nur sein "herausragendes künstlerisches Werk" hervorgehoben, sondern ausdrücklich "seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft".
Zhadan schreibt Romane, Gedichte, Essays und Songtexte, übersetzt und ist Sänger der ukrainischen Band "Sobaki v kosmosi", zu deutsch "Hunde im Weltraum". Seine Themen reichen von der postsowjetischen Zeit bis in die Besetzung des Donbass.
Suhrkamp zeigt den Überblick über die in Deutschland veröffentlichten Werke. Im Archiv von deutschlandfunkkultur findet sich eine Besprechung von "Depeche Mode", dem ersten auf deutsch erschienenen Roman. Und beim srf lässt sich ein Beitrag zu "Internat" von 2018 anhören: "Ein Lehrer will sich aus den Kämpfen im Donbass heraushalten und gerät doch immer mehr hinein. [...] Es ist eine der eindringlichsten Auseinandersetzungen mit dem Krieg in der Ostukraine. "
Roman der Wahl ist diesmal "Dschinns" von Fatma Aydemir. Yvonne hat auf einen druckfrisch-Beitrag hingewiesen!
Die Wortklabauterfrau von der Süddeutschen steigert sich in kreativen Wahn und überschriftet "Verdichtete Trauer", um dann zur "Hochdruckkammer der Gefühle" zu driften, der Roman sei "eine Mischung aus Kammerspiel und Roadnovel", der Aydemir "epischen Atem" einhauche, "durchpulst von Imaginärem zwischen Leben und Tod". Eine in der Diktion etwas tausendundeinnächtige, aber sehr positive Rezension.
Nicht ganz so positiv sieht das der deutschlandfunk, der kritisiert, das "an eine unorthodoxe Kamerafahrt erinnernde Verfahren" wirke "fahrig und unausgegoren" und überhaupt werde vieles nur angerissen, die Figuren seien "nicht gleichermaßen interessant" (naja, das hat nicht einmal Karl May geschafft), die "schicksalhaften Volten" des Romans seien zwar "durchaus möglich, aber wenig realistisch", um dann zu schließen, "Dschinns" sei ein "bemerkenswerter, vibrierender, atmosphärisch angespannter Text, der nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch den historischen Kontext" beleuchte. Ja was denn jetzt?
Den immer wieder aufkommenden Vorwürfen, die Deutschen seien in "Dschinns" sehr klischeehaft homophob und rassistisch gezeichnet, hält der Spiegel entgegen, dass Aydemir "ihren Plot auch gezielt Anfang der Neunzigerjahre angesiedelt" habe, "zur dunklen Nachwendezeit der rassistischen Brandanschläge. Aber eigentlich nimmt sie dieses Deutschland gar nicht so wichtig, es ist nicht der Protagonist. Das Buch ist deshalb auch keine Abrechnung."
Er ist Nobelpreisträger 2021 und hat 10 Romane veröffentlicht, aber zum "Zeitpunkt der Zuerkennung des Nobelpreises war keiner der fünf in die deutsche Sprache übersetzten Titel mehr im Buchhandel verfügbar", informiert wikipedia. Kommt uns das nicht bekannt vor? Geht das Nobelpreis-Komitee inzwischen so vor: Wird er/sie in Deutschland nicht mehr aufgelegt (Glück, Gurnah) oder verkehrt er mit Völkermördern (Peterle) oder möchte er/sie ihn gar nicht (Jelinek, Bobby D.)? Dann nehmen wir den oder die!
Inzwischen gibt es zumindest "Das verlorene Paradies" wieder auf Deutsch - wahnsinnig mutig vom Verlag. "Unterhaltsamer und aufrichtiger kann Humanismus kaum dargestellt werden", lobt der Deutschlandfunk den Autor, der den Preis erhalten habe "for his uncompromising and compassionate penetration of the effects of colonialism and the fate of the refugee in the gulf between cultures and continents" (Nobelpreiskomitee).
Gurnah sei "ein Meister der Ambivalenzen; er weiß um die Janusköpfigkeit von Kultur und Zivilisation", hebt die Welt in seinem Roman "Das verlorene Paradies" hervor, das im Original "Paradise" heißt. Tja, man muss also nicht immer zeigen, dass man Milton zwar nicht gelesen hat, aber trotzdem postmoderne Angeber-Wortspielchen machen kann. "Zipfelspieler" nennt man derartiges Volk auch auf Bayrisch.
Mit Joseph Conrads "Herz der Finsternis" sei "dieser Roman verglichen worden", weiß der NDR, "der Geschichte um den Händler Kurtz, der in Afrika dem Wilden, Barbarischen in ihm erliegt. Bei Gurnah ist es umgekehrt: Das Barbarische kommt mit den Europäern." Gurnah erzähle "in diesem Roman zudem auf unerwartete, von mündlicher Tradition beeinflusste Weise. Manchmal drollig, oft kühl, mit Abstand und immer wieder den gleichen Attributen für seine Figuren. Er scheint keinen Wert darauf zu legen, dass die Leserin mit Yusuf, Khalil, vielleicht der Mistress mitfühlt, verzichtet auf Komplexität und psychologische Tiefe", vermutet die Frankfurter Rundschau.
Bereits 1994 erschien "Paradise" als Gurnahs 4. Roman und wurde 1996 ohne großes Echo ins Deutsche übersetzt. Jetzt sollen alle 10 Romane auf Deutsch herausgegeben werden (Quelle: taz). Geht doch!
Elfriede hat auf den Youtube-Beitrag von der Tübinger Poetik-Vorlesung hingewiesen: "Den ersten Abend erzählt Menasse von den Bauprinzipien des Romans und vom Beginn des Schreibprozesses bei 'Dunkelblum'."
Yvonne hat entdeckt, dass es auf Spotify die ungekürzte Lesung des Romans und zwar von der Autorin selbst gibt, allerdings lese sie "gaaaaanz laaaaangsam". Dazu muss man allerdings einen Account dort haben oder sich kostenlos registrieren und ein 30-tägiges Probeabo abschließen, das man gleich wieder kündigen kann.
Das Gespräch mit der Autorin in der Reihe "Druckfrisch" ist ebenfalls auf youtube zu finden. Und auf der Frankfurter Buchmesse spricht Ina Hartwig mit Eva Menasse.
Rezensionen finden sich zu einem "der wichtigsten Bücher dieses Herbstes" (NDR) unter vielen anderen in der SZ, in der FAZ oder bei Deutschlandfunk Kultur.
Olivia hat Vicki Baums "Vor Rehen wird gewarnt" entdeckt. Gibt es als Sonderedition beim ADAC. "Vicki Baum ist eine der großartigsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts", schwärmt der Tagesspiegel.
"Krass" angebissen auf Martin Mosebachs Roman mit ebendiesem Titel hat Doris. "Manche Passagen changieren genüsslich zwischen Thomas Mann und Loriot, andere zeigen eher eine Lust zu reaktionären Provokationen, über die man bei einem guten Kognac aber getrost hinweglesen kann", so deutschlandfunkkultur. Was ist Kognac?, fragt sich da die Gin-Nase unter 30.
Miri glaubt, dass sie "geboren 1982" von Kim Jiyoung lesen möchte, der "zu den wichtigsten koreanischen Romanen der letzten Jahre" gehöre (zeit.de). Dem Roman wurde Kunstlosigkeit vorgeworfen, aber seine "Kunstfertigkeit liegt gerade darin, dass er seine Leserinnen und Leser die Fiktionalität vergessen lässt".
Der letzte Vorschlag war "Unter den hundertjährigen Linden" von Valérie Perrin, ein Roman, von dem die Großkritik bisher keine Notiz genommen hat. "Für Sie" preist ihn nach Verlagsnotiz an als: "Warmherziger Frauenroman".
Besser online als nie oder? Wir haben noch als "Altlast" von Yaa Gyasi "Heimkehren" und den spontan erwählten Roman "Ich bleibe hier" von Marco Balzano. Bitte, wählt einen Termin bis zum Dienstag, 9. Februar.
Ein paar Worte zu Balzano: Er ist Lehrer für Literatur an einem Mailänder Gymnasium und die Hauptperson und Ich-Erzählerin in "Ich bleibe hier" ist eine Lehrerin. Immer schön, sich mal mit etwas zu beschäftigen, das einem eine neue Welt eröffnet. Aber genug geblödelt!
Balzano erzählt die Geschichte eines Südtiroler Dorfes über ein Jahrhundert hinweg. "In Italien wurde das Buch übrigens von den Südtirolern als Zeichen der Versöhnung gesehen, indem ein Mailänder über diese offene Wunde im Vinschgau schreibt", informiert der mdr und attestiert dem Autor, "eine doch sehr klare und, nunja, zu Herzen gehende Geschichte" geschrieben zu haben.
Eine "Erzählung über Verluste, über den Verlust eines Kindes, eines Dorfes, einer Heimat, einer regionalen Identität. Es ist zugleich aber auch eine Erzählung über den Widerstand", fasst deutschlandfunkkultur zusammen. "Marco Balzano verzichtet auf stilistische und literarische Effekte. Er verfasst die Geschichte von Graun im ruhigen Ton einer Chronik und in einfacher Sprache."
"Es ist durchaus kunstvoll, wie Balzano das Zeitgeschehen mit dem Familiendrama verwebt", lobt die Süddeutsche, wäre aber nicht die Süddeutsche, wenn sie nicht auch ein bisschen quengeln könnte: "So ganz kann sich der Autor nicht entscheiden, was ihm wichtiger ist: die turbulente Geschichte Südtirols in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder die Geschichte einer jungen Frau, die lernen muss, mit immer neuen Verlusten zu leben." Naja, das geht ja noch. Übrigens hält der Autor des Artikels Balzanos Roman "Das Leben wartet nicht" für "noch bewegender".
Eine zehnminütige Hörprobe aus dem Hörbuch gibt es bei Diogenes
Die Südtirol-Problematik steht auch im Mittelpunkt von Francesca Melandris Roman "Eva schläft". Er "umspannt die Jahre 1919 bis 1992 und schildert das Familiendrama um Gerda, drittes Kind eines Optanten, Schwester eines Terroristen und eine Ausgestoßene während einer explosiven, kämpferischen Zeit, in der man ein Volk systematisch verdrängen bzw. vereinnahmen wollte". Diese Rezension auf buecherrezensionen.org verweist auf einen weiteren Südtirol-Roman - "Wundränder" von Sepp Mall. "In 42 Kapitelchen beschreibt Mall das Schicksal zweier Familien in den ereignisreichen Siebziger Jahren."
Nach den B-Movies jetzt die C-Literatur. Das hat uns gerade noch gefehlt. Man hört ja sonst nicht viel zu dem Thema. Deshalb hier im Tagesspiegel ein Überblick zum "Wettlauf um den Corona-Bestseller". Unter den Autor*innen Paolo Giordano, der damit Lucky Luke übergeholt haben dürfte, weil er schneller schreibt, als der schießt. Und der Tagesspiegel liefert auch gleich eine Rezension zu Giordanos "Buch", das man wohl unbedingt nicht gelesen haben sollte. Der Herr verschone uns vor Pest, Cholera und C-Literatur!
Guntram Vesper ist gestorben. 2016 durfte er eine Wiederentdeckung erleben, als er für seinen 1000-seitigen Roman "Frohburg" den Preis der Leipziger Buchmesse bekam (eine Rezension kann man in der FAZ lesen). Wobei man eigentlich kaum von Wiederentdeckung sprechen kann, denn seit seinem ersten Gedichtbändchen "Fahrplan" verging kaum ein Jahr, in dem er nicht Erzählungen, Gedichte oder Hörspiele veröffentlicht hätte.
Alles, was Guntram Vesper "aus Erfahrung, historischer wie eigener, in Sprache verwandelt hat, folgt einer Ästhetik der überdeutlichen Wahrnehmung und der klaren Benennung", schreibt die Süddeutsche in seinem Nachruf.
Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2020 ist Anne Weber mit ihrem Roman "Annette, ein Heldinnenepos". Und ein Heldinnenepos ist das Werk auch in der Form, denn die Autorin hat sich dafür an den alten Epen in lyrischem Ton und - wenn auch absolut freier - Versgestaltung orientiert.
Sie erzählt darin die Lebensgeschichte von Anne Beaumanoir, 1923 geboren, Résistance-Kämpferin, Neurophysiologin, engagiert für die FLN im Algerienkrieg, um nur einige Stationen zu nennen. "Zum Schönsten an diesem Buch gehört auch der scharfe und zugleich stets differenzierte Blick auf die Geschichte, der sich nie in politisch-moralischem Besserwissen ergeht", lobt die Süddeutsche. Auf die Rezensionen der FAZ und von Deutschlandfunk Kultur wurde bereits im Artikel über die Shortlist hingewiesen. Die Zeit spricht von nichts weniger als
"einem literarischen Ereignis". Wenn einem so viel Gutes widerfährt, das ist schon einen Buchkauf wert. Ein Video zur Preisverleihung findet sich auf der Seite des Deutschen Buchpreises.
Sehr lustig übrigens der Verweis im Internetauftritt des herausgebenden Verlags Matthes & Seitz:
Anscheinend war das Vertrauen in den Roman nicht so groß, dass man genug drucken wollte. War ja auch nur auf der Shortlist.
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